Politische Parteien in Österreich


Hubert Sickinger

1. Hauptsächliche Funktionen politischer Parteien

1.1 Parteien als zentrale Akteure bei Wahlen

Abb. 4 Österreichische Parteien

Parteien(1) sind das wichtigste verbindende Element zwischen den demokratisch bestellten Verfassungsinstitutionen – Parlamenten und Regierungen auf Bundes-, Landes- und Gemeindeebene – und der Bevölkerung. Sie haben dabei zwar kein Monopol, da auch Interessenverbände (z.B. der Österreichische Gewerkschaftsbund, die Kammern) wirtschaftliche und gesellschaftliche Interessen artikulieren und zu Forderungsprogrammen bündeln und damit an politischen Entscheidungsprozessen beteiligt sind. Das zentrale Merkmal politischer Parteien besteht im Unterschied zu Verbänden aber darin, dass sie sich an Parlamentswahlen beteiligen. Parteien sind dadurch die Organisationen, welche die Auswahl der Mitglieder der Parlamente – und damit indirekt der Regierungen – bestimmen.

Abb. 5 Wahlkreise Österreich

Der österreichische Nationalrat wird nach dem System der Verhältniswahl gewählt. Dabei existieren drei Stufen der Mandatszuweisung:(2)

  • 39 Regionalwahlkreise(3) bilden die unterste Ebene, umfassen mehrere Verwaltungsbezirke, zu vergeben sind 1–8 Mandate (im Durchschnitt 4–5 Mandate)
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  • neun Landeswahlkreise
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  • ein Bundeswahlkreis

Um Mandate zu erlangen, muss eine Partei alternativ zumindest ein Grundmandat in einem Regionalwahlkreis erreichen oder bundesweit zumindest vier Prozent der gültigen Stimmen erhalten. In den Regional- und Landeswahlkreisen gibt es für die Wähler/innen die Möglichkeit, die Reihung der Kandidat/innen über Vorzugsstimmen zu verändern. (Im Regionalwahlkreis genügt ein Sechstel der Stimmenzahl der Partei für eine Kandidatin/einen Kandidaten für deren/dessen Vorreihung. Auf Landesebene reicht die halbe Wahlzahl, das ist die halbe Stimmenzahl, die für ein Mandat erforderlich ist.) Aber auch in diesen Fällen einer personalisierten Stimmabgabe ist Voraussetzung, dass erfolgreiche Vorzugsstimmenkandidat/innen von ihrer Partei zumindest in die Kandidat/innenliste aufgenommen wurden. Die Parteien haben somit ein Monopol bei der Rekrutierung von Nationalratsabgeordneten. Ähnlich stellt sich die Situation auch für Landtagsabgeordnete und Gemeinderät/innen dar: Auch hier haben letztlich die Parteien die zentrale Rolle bei der Auswahl der Kandidat/innen, und trotz Vorzugsstimmensystem ist normalerweise die von der Partei vorgenommene Reihung auf der Kandidat/innenliste entscheidend für die tatsächliche Mandatsvergabe.

Es gibt hunderte politische Parteien in Österreich, die in unterschiedlicher Intensität aktiv sind. Von überregionaler Bedeutung sind allerdings nur die fünf Parteien, welche die Wahl in den Nationalrat geschafft haben (SPÖ, ÖVP, FPÖ, BZÖ, Grüne) sowie einzelne bundesweit aktive Kleinparteien (wie die KPÖ und das Liberale Forum). In Einzelfällen haben zuletzt nicht-etablierte Parteien die Wahl in einzelne Landtage geschafft (die Liste Fritz in Tirol, die KPÖ in der Steiermark), in Gemeinderäten haben Namenslisten – die meist von der lokalen Bekanntheit ihrer Repräsentantinnen/Repräsentanten leben – größere Chancen.

Abb. 6 Parteistatut APÖ

Die Gründung einer politischen Partei ist denkbar einfach: Im Wesentlichen reicht die Hinterlegung der Statuten im Innenministerium und deren Veröffentlichung in einer periodischen Druckschrift. Die Beteiligung an Wahlen stellt allerdings beträchtliche Hürden dar (z.B. Sammeln von Unterstützungserklärungen, die im Gemeindeamt abgegeben werden müssen), vor allem aber kosten Wahlkämpfe viel Geld. Parteien brauchen somit Unterstützer/innen (zahlreiche Aktivistinnen/Aktivisten, Wahlhelfer/innen), Kandidatinnen/Kandidaten, die für bestimmte Themen und Interessen in der Wählerschaft stehen, und finanzielle Ressourcen. Sie benötigen kontinuierliche Aufmerksamkeit der Massenmedien, die sektiererische „Splitterparteien“ von vornherein kaum erwarten können.

1.2 Österreichs Parteien als politisch-gesellschaftliche „Lager"

Abb. 7 Wahlen

Abb. 8 die Vermittlung von Gemeindewohnungen (Reumannhof)

Parteien sind zumindest in Österreich nicht auf die bereits genannten Kernfunktionen der Beteiligung an Wahlen, Präsentation von Programmen und Rekrutierung der in Parlamenten und Regierungen aktiven Politiker/innen beschränkt. Vor allem die beiden Großparteien, SPÖ und ÖVP (bzw. deren Vorgänger in der Ersten Republik, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei und die Christlichsoziale Partei), waren historisch Teil politisch-weltanschaulicher „Lager“, die ihre Aufgabe in der umfassenden Einbindung der einzelnen Individuen, deren politischer Sozialisation und Mobilisierung und nicht zuletzt v.a. in den ersten Jahrzehnten der Zweiten Republik auch in Patronageleistungen(4) erblickten (Vermittlung von Arbeitsplätzen im öffentlichen Sektor, günstigen Gemeinde- und Genossenschaftswohnungen u.Ä.). Als Erbschaft dieser mittlerweile stark aufgeweichten „Lagerstruktur“ stützen sich ÖVP und SPÖ immer noch auf ca. ein Achtel der Wahlberechtigten als Mitglieder, was international einen Spitzenwert darstellt und eben nur historisch erklärbar ist, sie sind zugleich aber auch mit einschlägigen Negativimages (Vorwürfen der geradezu sprichwörtlichen „Parteibuchwirtschaft“) konfrontiert. Daneben existierte seit dem 19. Jahrhundert ein kleineres deutschnationales „Lager“. Die spätere Verstrickung(5) der meisten Funktionäre der deutschnationalen Parteien in den Nationalsozialismus prägt die Wahrnehmung der Nachfolgeparteien (FPÖ und BZÖ) teilweise bis heute.

Die Geschichte der Parteien stellt somit einen Schlüsselfaktor für die Erklärung auch des gegenwärtigen Parteiensystems dar, durch die Behandlung der Parteien im Geschichtsunterricht ab dem späten 19. Jahrhundert kann somit auch ein essentieller Beitrag zur politischen Bildung vermittelt werden. Die Erklärungskraft der Parteigeschichte bezieht sich dabei auf folgende Ebenen:

Parteien werden von den Wähler/innen normalerweise nicht auf Basis einer genauen Kenntnis ihrer Programme gewählt: Wahlverhalten basiert zum Großteil auf Images der Parteien (und ihrer Spitzenrepräsentant/innen), die zu einem beträchtlichen Teil auch historisch gewachsen sind. Auch die Wahrnehmung der konkurrierenden Parteien bzw. das Politikbild der aktiven Mitglieder, Funktionär/innen und gewählten Mandatar/innen ist durch die jeweilige Geschichte des eigenen „Lagers“ stark geprägt.

Im Folgenden soll daher zunächst ein knapper Überblick über die Geschichte des österreichischen Parteiensystems geboten werden. Die Personalauswahl („Elitenrekrutierung“) der Parteien ist weiters durch ihre internen Strukturen, d.h. ihren Aufbau und ihre internen Machtverhältnisse geprägt, weshalb anschließend die Parteiorganisationen behandelt werden. Als Ergebnisse sowohl der historischen Entwicklung als auch des aktuellen personellen und thematischen Angebots ist auch auf die Wähler/innenschaft der Parteien einzugehen.

 

2. Geschichte des österreichischen Parteiensystems

 

2.1 Monarchie und Erste Republik

Parteien im heutigen Verständnis – mit nennenswerten Mitgliederzahlen und einer dauerhaften Organisation sowie stabilen Fraktionen im Parlament (Parlamentsklubs) – entstanden in Österreich im letzten Vierteljahrhundert der Monarchie.

  • Die Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, der historischen Vorläuferin der SPÖ, in Form einer Einigung unterschiedlicher Strömungen durch Viktor Adler datiert 1889.
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  • Die Christlichsoziale Partei, historische Vorläuferin der ÖVP, wurde 1891 vom späteren Wiener Bürgermeister Karl Lueger gegründet.
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  • Auf eine noch ältere Tradition können nur liberale und deutschnationale Parteien – historisch die Vorläufer der Deutschnationalen der Ersten Republik und der Freiheitlichen nach 1945 – verweisen. Diese entstanden ab 1867 (Beginn der konstitutionellen Monarchie) im nach einem sehr eingeschränkten Kurienwahlsystem gewählten Abgeordnetenhaus und bestanden im Wesentlichen aus losen Vereinigungen gleichgesinnter Abgeordneter, kannten also noch keine Parteiorganisationen außerhalb des Parlaments. Bekanntester und umstrittenster Repräsentant der Deutschnationalen im späten 19. Jahrhundert war Georg Ritter von Schönerer.

Voraussetzung für die Bildung von Parteien war die Durchsetzung der konstitutionellen Monarchie, die mit der Dezemberverfassung 1867 abgeschlossen wurde. Voraussetzung der Durchsetzung der außerhalb des Parlaments entstandenen Massenparteien gegenüber den liberalen und nationalen „Honoratiorenparteien“ war die Ausweitung des Wahlrechts, das zunächst ein eng begrenztes Kurienwahlrecht war, 1897 um eine allgemeine Wählerkurie erweitert und 1907 durch ein allgemeines und gleiches Wahlrecht für Männer ersetzt wurde. Frauen erhielten erst 1918 das Wahlrecht.(6)

Auch nach 1867 wurden Parteien vom monarchischen Obrigkeitsstaat zunächst polizeistaatlich überwacht und im Falle revolutionärer Zielsetzungen vehement bekämpft. Parteien entwickelten sich daher vorerst außerhalb des Vereinsrechts und wiesen anfangs eher lose Organisationsstrukturen auf. Am Beispiel der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei können die schwierigen Ausgangsbedingungen veranschaulicht werden:

  • hre Basis bildete die unterprivilegierte städtische Arbeiterklasse – die damals noch keine 48-Stunden-Woche und Sechstagewoche, keinen Achtstunden-Arbeitstag kannte (diese Forderungen wurden erst 1918/1919 durch gesetzt).
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  • Aufgrund des sehr eng gefassten Wahlrechts handelte es sich (auch im eigenen Selbstverständnis) um eine außerparlamentarische Kampforganisation mit revolutionärer (marxistischer) Weltanschauung.
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  • „Halblegaler“ Status: Vor dem 1. Weltkrieg waren derartige politische Parteien im Grunde von den monarchischen kontinentaleuropäischen Obrigkeitsstaaten allenfalls geduldet, aber nicht explizit erlaubt. Erst ab Durchsetzung des allgemeinen und gleichen Männerwahlrechts waren Parteien zumindest indirekt de facto anerkannt (weshalb die SDAP in den Jahren 1907–1909 ihren Parteiapparat neu organisieren und konsolidieren konnte).
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  • Diesen Parteien stand eine geschlossene Abwehrfront von militant entschlossenen Kräften um Thron und Altar und den Besitzenden gegenüber – wo sie politisch auftraten, wurden sie von den herrschenden Kräften auch ideologisch auf das Schärfste bekämpft.

Die zunächst ablehnende Haltung der Obrigkeit traf allerdings nicht nur die Sozialdemokratie. Auch die Christlichsoziale Partei wurde – aufgrund ihrer zu Beginn stark antikapitalistischen Rhetorik und ihres ausgeprägten Antisemitismus – seitens des Kaiserhauses vorerst abgelehnt. Erst in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wuchs die Christlichsoziale Partei, die ihre soziale Basis v.a. im Kleinbürgertum (prominentestes Beispiel: Wien in der Zeit Karl Luegers, dessen Wahlerfolge auf einem ungleichen Kurienwahlrecht basierten, das Arbeiter stark benachteiligte) und der Landbevölkerung hatte, in die Rolle einer potentiellen konservativen Reichspartei hinein.

Die neuen Massenparteien setzten sich mit der Durchsetzung des allgemeinen und gleichen Männerwahlrechts gegen die früheren Honoratiorenparteien durch. Auf dem Gebiet des heutigen Österreich wurden die Sozialdemokraten und Christlichsozialen bereits vor dem Ersten Weltkrieg die stärksten Parteien. Diese verfügten allerdings nur über geringen tatsächlichen Einfluss: Das Parlament hatte in der konstitutionellen Monarchie keinen Einfluss auf die Bildung der Regierung und war aufgrund der Nationalitätenkonflike intern zerstritten. Die Regierung agierte deshalb in der Praxis meist auf Basis von Notverordnungen am (nicht einberufenen) Parlament vorbei. Erst 1918 mit dem Zusammenbruch des bisherigen Regimes als Folge der Niederlage im Ersten Weltkrieg wurden die Parteien die zentralen Akteure im politischen System. Die 1920 beschlossene Verfassung war ein Kompromiss der großen Parteien, die neu geschaffene parlamentarische Republik war parteienstaatlich dominiert. 1918 bis 1920 bildeten die beiden Großparteien eine Koalition. 1920 ging die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAPÖ) in Opposition, während die Christlichsoziale Partei ab diesem Zeitpunkt mit wechselnden Koalitionspartnern (den kleineren deutschnationalen Parteien DNVP, dem Landbund, den Heimwehren) regierte („Bürgerblock“).

Nur in Wien verfügten die Sozialdemokraten über eigenständige Gestaltungsmöglichkeiten, die für eine auch international viel beachtete Kommunalpolitik (kommunaler Wohnbau, Kulturpolitik etc.) genützt werden konnte.

Die Konflikte zwischen den Parteien betrafen einerseits die Lastenverteilung der Problembewältigung der zerrütteten Nachkriegswirtschaft (Österreich als Kernland der „cisleithanischen“ Reichshälfte der Monarchie hatte eine überproportionale Bürokratie „geerbt“, die Industrie hatte durch neue Zollschranken der Nachfolgestaaten der Monarchie Absatzmärkte verloren, in den Anfangsjahren verlor der Mittelstand durch eine galoppierende Inflation seine Ersparnisse etc.). Österreich erreichte erst 1929, unmittelbar vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise, annähernd wieder die Wirtschaftsleistung von vor dem Krieg. Andererseits lagen auch die ideologischen Ziele der Parteien diametral auseinander: Demokratie bildete eigentlich nur die Spielregel für den politischen Prozess, kaum einen Wert an sich. Die Parteien vertraten divergente politisch-gesellschaftliche Leitbilder: Seitens der Christlichsozialen waren dies vor alem die Umsetzung der moralischen und machtpolitischen Ziele der katholischen Kirche (etwa im Erziehungswesen und im Familienrecht) und zunehmend auch ständestaatliche und autoritäre Gesellschafts- und Politikziele, seitens der Sozialdemokratie waren dies austromarxistische Zielsetzungen eines demokratischen Sozialismus. An die langfristige Überlebensfähigkeit des Kleinstaates glaubte in der Ersten Republik nur eine Minderheit, die kleinen deutschnationalen Parteien vertraten einen Anschluss an das Deutsche Reich im Vergleich mit CSP und SDAPÖ (die den „Anschluss“ erst 1933 nach Hitlers Machtergreifung verwarfen) mit besonderer Vehemenz.

Organisatorisch gab es markante Unterschiede zwischen den Parteien. Die SDAPÖ war auch von den Mitgliederzahlen eine Massenpartei: Verfügte sie 1913 in Cisleithanien laut Parteitagsbericht über ca. 142.000 Mitglieder, so stieg diese Zahl in den unmittelbaren Nachkriegsjahren bereits auf 330.000, 1929 und 1932 weist der Parteitagsbericht jeweils ca. 650.000 Mitglieder aus, davon ca. 400.000 in Wien. Im „Roten Wien“ war damit ein Viertel der Bevölkerung bzw. jede zweite Arbeiterin/jeder zweite Arbeiter Mitglied der Partei. Zu diesem Zeitpunkt war auch sehr bemerkenswert, dass bereits ein knappes Drittel der sozialdemokratischen Parteimitglieder Frauen waren. Die hohen Mitgliederzahlen zeigen, dass es der Sozialdemokratie gelungen war, eine umfassende „Gegengesellschaft“ zur katholisch-konservativen Mehrheitsgesellschaft aufzubauen, die sich nicht nur in der Partei selbst erschöpfte: Ziel war (durchaus analog und als Gegenstück zur katholischen Kirche) der Aufbau eines umfassenden Vereinsnetzwerks und komplementärer kommunaler Dienste, um es den eigenen Anhängern zu ermöglichen, ihr gesamtes Leben („von der Wiege bis zur Bahre“, d.h. von der sozialdemokratischen Kinderkrippe bis zum Bestattungsverein „Die Flamme“) im Rahmen der Sozialdemokratie zu verbringen.

Die Christlichsoziale Partei war in der Ersten Republik der politische Arm der katholischen Kirche. Sie konnte sich daher weitgehend auf deren Unterstützung verlassen und darauf verzichten, selbst eine massenhafte Mitgliederbasis und ein eigenes dichtes Vereinsnetzwerk aufzubauen. Die CSP war stark föderalistisch mit je nach Bundesland differierenden Strukturen organisiert. In der 1933/34 schrittweise durch die christlichsoziale Regierung errichteten Diktatur ging sie de facto in der neu geschaffenen Einheitspartei Vaterländische Front auf (und wurde schließlich auch formal aufgelöst).

Abb. 20 republikanischer Schutzbund 1930

Abb. 21 Heimwehraufmarsch Wiener Neustadt 1931

Abb. 22 13.3.1938: "stürmischer Jubel empfängt die deutschen Formationen in Österreich"

Die Politik der Ersten Republik war in hohem Maße polarisiert, auch von einem beträchtlichen Ausmaß politisch motivierter Gewalt an der gesellschaftlichen Basis geprägt. Dies kam auch dadurch zum Ausdruck, dass in den 1920er-/1930er-Jahren im Naheverhältnis zu den Parteien bzw. politischen „Lagern“ auch bewaffnete paramilitärische Verbände (Republikanischer Schutzbund, Heimwehren, Frontkämpferverbände) existierten. Ab 1927 – Menetekel der Radikalisierung war der Brand des Justizpalastes und der Einsatz von Waffengewalt gegen die Demonstrant/innen durch die Polizei mit über 90 Toten und hunderten Verletzten – verschärfte sich diese Polarisierung zusehends, insbesondere die Heimwehren (zeitweilig Koalitionspartner der Christlichsozialen) orientierten sich nach dem Vorbild Mussolinis nun offen am Faschismus. Die Bewältigung der Weltwirtschaftskrise der frühen 1930er-Jahre (samt Beinahe-Bankrott und Verstaatlichung der Credit-Anstalt und hoher Arbeitslosigkeit) überforderte angesichts der Polarisierung der Lagerparteien die Problemlösungsfähigkeit der noch jungen Demokratie, und Wahlergebnisse auf Landes- und Gemeindeebene ab 1932 zeigten, dass die bisherigen kleineren deutschnationalen Regierungsparteien ihre Stimmen zunehmend an die NSDAP verloren. Die christlichsoziale Regierung nützte daher am 3. März 1933 eine Abstimmungspanne im Nationalrat zur Ausschaltung des Parlamentarismus, zur schrittweisen Ausschaltung verfassungsstaatlicher Institutionen und zum schrittweisen Verbot konkurrierender Parteien (1933 zunächst der NSDAP und KPÖ, im Februar 1934 der SDAPÖ). Die Folge waren 1934 zwei Bürgerkriege (gegen die Sozialdemokraten im Februar und der NS-Putschversuch im Juli) mit jeweils hunderten Toten. Oppositionelle parteipolitische Tätigkeit war ab 1933 bzw. 1934 nur noch in der Illegalität gegen den „christlichen Ständestaat“ möglich, der in der politischen Praxis eher eine Regierungsdiktatur mit polizeistaatlicher Unterdrückung der Opposition und dem nur eingeschränkt erfolgreichen Versuch der (auch erzwungenen) Mobilisierung von Unterstützung bzw. Akklamation durch monopolistische Massenorganisationen wie die Vaterländische Front darstellte.

1938 wurde der Ständestaat durch den Einmarsch der Truppen des Deutschen Reichs beendet.(7) Die folgende NS-Diktatur 1938–45 war bei der Verfolgung tatsächlicher oder vermeintlicher Gegner/innen des Regimes weitaus konsequenter und erfolgreicher. Dennoch konnten nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reichs“ die beiden Großparteien erstaunlich rasch an ihre personellen und teilweise auch organisatorischen Traditionen von vor 1933 bzw. 1938 anknüpfen.

2.2 Zweite Republik

Abb. 23 statt offener Konflikte große Koalition

Abb. 24 Proporz und gegenseitiges Misstrauen

Die historische Erblast der Entwicklung der 1920er und 1930er Jahre samt Bürgerkrieg und „autoritärem Ständestaat“ belastete auch nach 1945 das Verhältnis zwischen den Großparteien.Anders als vor 1934 bzw. 1938 wurden diese Gegensätze allerdings nicht mehr offen als Gegensatz von Regierung und Opposition ausgetragen; stattdessen bildeten ÖVP und SPÖ 1945 eine große Koalition (bis 1947 unter Einschluss auch der KPÖ, die sich bei den Nationalrats- und Landtagswahlen 1945 allerdings als Kleinpartei erwies). Für diese gemeinsame Politik war sicherlich hilfreich, dass zahlreiche Spitzenfunktionäre des Jahres 1945 in der Zeit des „Anschlusses“ in deutschen Konzentrationslagern die Erfahrung gemeinsamer Verfolgung durch das nationalsozialistische Deutsche Reich machen mussten (der vielzitierte „Geist der Lagerstraße“). Wichtiger war freilich die Notwendigkeit, in dem 1945-55 in vier Besatzungszonen aufgeteilten Österreich die staatliche Einheit zu retten (insbesondere eine Eingliederung der sowjetischen Besatzungszone in den neu gebildeten kommunistischen Staatenblock durch eine Teilung wie in Deutschland zu verhindern) und den Wiederaufbau der zunächst zerrütteten Nachkriegswirtschaft zu ermöglichen.

Darüber hinaus bestand das einigende Band – das zu einer Fortführung der Koalition noch ein weiteres Jahrzehnt nach Wiedererlangung der völligen Souveränität 1955 führte – aber eben in den Erfahrungen der Zwischenkriegszeit und dem massiven wechselseitigen Misstrauen gegenüber den Absichten des Koalitions„partners“ im Falle von dessen möglicher Alleinregierung. Die „Lösung“ des fortwirkenden Konflikts bestand stattdessen in einer Machtteilung und einer durchaus wörtlich zu nehmenden Teilung der Republik in eine „schwarze“ und eine „rote“ Einflusssphäre, die (in Anlehnung an die vergangene österreichisch-ungarische Doppelmonarchie) ironisch auch als „Reichshälften“ bezeichnet wurden. Der Konsens bestand darin, wichtige (wirtschafts-, sozial- und gesellschaftspolitische) Entscheidungen nur gemeinsam zu treffen, wobei in die wirtschaftspolitische Entscheidungsfindung auch die Kammern und der ÖGB eingebunden wurden: Neben der großen Koalition entwickelte sich (auch aufgrund der Uneinigkeit der Parteien ab Mitte der 1950er-Jahre in wirtschaftspolitischen Themen) eine zunehmend intensive Kooperation der Großverbände in Form der Sozialpartnerschaft.

Die beiden bis in die 1990er-Jahre dominanten Großparteien, SPÖ und ÖVP, waren jeweils die Nachfolger von SDAPÖ und CSP der Zwischenkriegszeit. Allerdings verstand sich nur die SPÖ auch offiziell als Nachfolgepartei, reaktivierte die Organisationsstruktur der Ersten Republik und konnte auch bald wieder die alten Mitgliederzahlen erreichen. Die ÖVP stellte hingegen trotz personeller Kontinuitäten eine Neugründung dar – die auch aufgrund des (zunächst v.a. offiziellen) Rückzugs der katholischen Kirche aus der Parteipolitik nötig wurde. Die ÖVP musste ab 1945 daher neue Mitgliederstrukturen aufbauen, was ihr über einen indirekten Parteiaufbau über Bünde (Bauernbund, Wirtschaftsbund, Arbeiter- und Angestelltenbund), die faktisch zugleich Interessenvertretungen darstellten, sehr rasch auch gelang.

Abb. 25 eine Führungsposition durch die Großparteien

Abb. 26 deutschnational

Die daraus resultierende, im internationalen Vergleich den absoluten Spitzenwert markierende Mitgliederdichte der Parteien (in den 1950er bis frühen 1980er Jahren war mehr als ein Viertel der wahlberechtigten Bevölkerung auch Mitglied in einer der Großparteien) war allerdings nicht nur durch eine hohe Identifikation mit diesen Parteien bedingt, sondern auch durch die gerade sprichwörtliche „Parteibuchwirtschaft“:

In den ersten Jahrzehnten der Zweiten Republik war der Zugang zu Arbeitsplätzen in der Verwaltung oder den großen Sektor staatlicher Wirtschaftsunternehmen häufig mit der Notwendigkeit einer Parteimitgliedschaft verbunden, dasselbe galt bis in die 1980er Jahre auch für den Zugang zu günstigen Gemeinde- und Genossenschaftswohnungen. Die parteipolitische Patronage bezog sich somit nicht nur auf wirtschaftliche oder administrative Führungsfunktionen (wo sie bis heute eine wichtige Rolle spielt), sondern sehr weitgehend auch auf untergeordnete Funktionen.

Umgekehrt bedeutete die Nichtmitgliedschaft in ÖVP oder SPÖ (oder zumindest in parteipolitisch klar zugeordneten Vorfeldorganisationen) deutlich verminderte berufliche und gesellschaftliche Chancen, zumindest im gesamten Staatssektor.

Erst seit den 1980er Jahren geriet die „Parteibuchwirtschaft“ auf breiter Basis unter starke öffentliche Kritik und wurde auch als Folge der damaligen Krise der verstaatlichen Industrie (die zu starkem Personalabbau und Privatisierungen führte) zumindest im Bereich der Subaltern- bzw. Versorgungspatronage großteils aufgegeben.

Eine Vertretung des deutschnationalen Lagers konnte erst wieder ab 1949 kandidieren. Der VdU (Verband der Unabhängigen) präsentierte sich vor allem als Vertreter der ehemaligen Nationalsozialist/innen, die zu diesem Zeitpunkt von der Entnazifizierung betroffen waren, seine Nachfolgepartei, die 1956 nach Abzug der Alliierten gegründete FPÖ, präsentierte sich noch prononcierter „national“ und kam (auch deshalb) jahrzehntelang über den Status einer politisch marginalisierten Kleinpartei nicht hinaus. Erst ab 1970 (parlamentarische Unterstützung einer SPÖ-Minderheitsregierung) wurde die FPÖ als potentielle Koalitionspartnerin der Großparteien eingestuft. Aber erst ab 1986 – nach dem Zwischenspiel einer wenig erfolgreichen kleinen Koalition mit der SPÖ und einem anschließenden Kurswechsel unter Jörg Haider zu einer radikal rechtspopulistischen Partei – stieg die FPÖ zu einer mittelgroßen Partei auf, die 1999 sogar die ÖVP knapp nach Stimmen überholen konnte. Nach dem Eintritt in eine Regierung mit der ÖVP (2000–2006) stießen die populistischen Forderungen an die realpolitischen Grenzen der Machbarkeit und Durchsetzbarkeit, was deutliche Rückschläge und eine Abspaltung der regierungsorientierten Teile der Partei in Form des BZÖ zur Folge hatte. Erst in der Opposition gegen eine erneute große Koalition erlebte der Nationalpopulismus einen Wiederaufstieg.

Die einzige tatsächlich „neue“, da nicht in der gesellschaftlichen „Lagerstruktur“ wurzelnde Partei, der nach 1945 eine dauerhafte Etablierung gelang, waren ab Mitte der 1980er Jahren die Grünen (welche erstmals 1986 in den Nationalrat einzogen, aber erst 2004 auch in allen Landtagen vertreten waren). Die Grünen verstanden sich anfangs als parlamentarischer Arm der Umwelt-, aber auch Friedens- und Frauenbewegung sowie von Bürgerinitiativen, stellten sich in der Frühphase auch das Ziel, eine basisdemokratische Partei ohne langfristig amtierende Berufspolitiker zu schaffen, entwickelten sich in der Folge aber eher zu einer linksliberalen Partei mit starken Mitentscheidungsmöglichkeiten der Funktionär/innenbasis.

Eine in den 1990er-Jahren vorübergehend erfolgreiche liberale Partei (das Liberale Forum) konnte sich dem gegenüber nicht dauerhaft in den Parlamenten behaupten.

 

3. Parteiorganisationen

 

Abb. 27 manche Parteien sind Großorganisationen

Einige der etablierten Parteien sind Großorganisationen, deren Angestelltenzahl und finanzieller Umsatz durchaus mit Großunternehmen vergleichbar sind. Zugleich sind Parteien aber Freiwilligenorganisationen, die maßgeblich auf unentgeltliche Mitarbeit ihrer Mitglieder und Funktionäre angewiesen sind. Die Organisationssoziologie moderner Parteien weist ihnen somit eine hybride Natur zu: Sie sind gleichermaßen ehrenamtliche Organisationen (die für die Aktiven unter ihren Mitgliedern und ihre kleineren Funktionäre auch eine Art Clubleben Gleichgesinnter zur Verfügung stellen); zugleich sind sie hauptberuflich betriebene spezialisierte Agenturen des Machterwerbs, wie an professionellen und kostenintensiven Wahlkämpfen sowie permanenter Öffentlichkeitsarbeit abgelesen werden kann. Parteien bieten Angebote zur politischen Beteiligung von Mitgliedern und Interessierten, sie stellen (sofern sie über entsprechende Regierungsfunktionen oder Kontakte zu Entscheidungsträgern verfügen) mit ihren Abgeordneten, Bezirkssekretären etc. aber zugleich auch Interventions- und Patronageangebote für Mitglieder und mögliche WählerInnen zur Verfügung und üben damit auch (durchaus problematische) gesellschaftliche Macht aus. Nicht zuletzt sind sie – über ihre Parlamentsklubs und Gemeinderatsfraktionen – auch die koordinierenden Institutionen für ihre in öffentliche Ämter gewählten Mandatare (Abgeordnete, Gemeinderäte), die zumindest auf der Bundesebene und teilweise auch der Landesebene Politik hauptberuflich betreiben. In der österreichischen politischen Praxis ist diese Steuerung des gemeinsamen Auftretens (gleichermaßen bei Regierungs- wie Oppositionsparteien) durch die Parlamentsfraktionen auch im internationalen Vergleich sehr strikt, was auch daran abgelesen werden kann, dass ein von der Fraktion abweichendes Abstimmungsverhalten(8) einzelner Mandatare nur außerordentlich selten vorkommt (Stichwort „Klubzwang").

Abb. 28 Logo SPÖ Sektion 8

Abb. 29 Logo ÖVP Mariahilf

SPÖ und ÖVP sind beinahe flächendeckend in fast allen Gemeinden mit lokalen Parteiorganisationen (Ortsorganisationen, Sektionen bzw. Ortsteilgruppen, Stützpunkten) vertreten. Deren Arbeit wird üblicherweise auf Ebene der Bezirksparteiorganisationen koordiniert und unterstützt, die auch über hauptberuflich angestelltes Personal (Bezirksparteisekretärinnen/-sekretäre, Büropersonal) verfügen. Auf Landes- und Bundesebene sind die Parteiorganisationen personell besonders stark ausgebaut. Auf allen Ebenen existierten als willensbildende Organe gewählte Obleute, Vorstände und breiter besetzte Ausschüsse sowie nur vergleichsweise selten zusammentretende Parteitage, wobei letztere nach den Statuten die obersten Organe darstellen. Nur auf unterster Ebene existieren Vollversammlungen der Mitglieder. Die Organe der „übergeordneten“ Ebenen werden durch die weiter unten angesiedelten, näher bei den Mitgliedern angesiedelten Parteiorganisationen beschickt: Die innerparteiliche Demokratie ist eine Funktionär/innendemokratie.

Neben die territoriale Gliederung tritt eine berufliche Gliederung durch Teil- oder Sonderorganisationen. Bei der ÖVP ist diese Gliederung aufgrund ihrer „bündischen Struktur“ besonders stark ausgeprägt: Bis 1972 war automatisch mit der Mitgliedschaft in einer Teilorganisation (von denen Wirtschaftsbund, Bauernbund und ÖAAB mit Abstand am einflussreichsten sind; daneben existieren noch Teilorganisationen für Jugend, Frauen und Senioren) eine Parteimitgliedschaft verbunden und sogar nur auf diesem Umweg möglich, erst seit den 1980er Jahren muss auch ausdrücklich der ÖVP selbst formell beigetreten werden. Bis heute werden bei der ÖVP die Mitglieder fast ausschließlich durch die Teilorganisationen erfasst und betreut, die Funktionäre haben in diesen ihre politische „Hausmacht“, das innerparteiliche Leben spielt sich großteils in den „Bünden“ ab. Auf diese Weise wurden innerparteilich zugleich die Wirtschaftsstrukturen der Frühphase der Zweiten Republik innerparteilich reproduziert und teilweise bis heute erhalten: Dass der Bauernbund neben dem weniger einflussreichen Seniorenbund die mitgliederstärkste Teilorganisation (noch vor ÖAAB und Wirtschaftsbund) ist, hat maßgeblich zur sehr effizienten Vertretung der Interessen des Landwirtschaftssektors innerhalb der ÖVP und im politischen System allgemein beigetragen. Die bündische Struktur erschwert zugleich eine „realistische“ Bestimmung der Zahl der ÖVP-Mitglieder – Berechnungen reichen von einer Mindestzahl einer halben Million bis deutlich über eine Dreiviertelmillion (Mitglieder aller Teilorganisationen abzüglich Überschneidungen, aber ohne Berücksichtigung tatsächlicher Zahlung eines Mitgliedsbeitrags).

Die Mitgliedschaft der SPÖ ist hingegen direkt organisiert und durch die tatsächlich geübte Einforderung des Mitgliedsbeitrags (derzeit 60 Euro pro Jahr für VollzahlerInnen) auch verbindlich bestimmbar: Von ihren Höchstständen bis zu 720.000 Ende der 1960er und Ende der 1970er Jahre hat die SPÖ besonders ab den 1990er Jahren starke Rückgänge zu verzeichnen gehabt; 2009 liegt die Mitgliederzahl „nur“ mehr bei knapp über einer Viertelmillion. Allerdings hat auch die SPÖ Nebenorganisationen: Die Fraktion Sozialdemokratischer Gewerkschafter/innen (organisiert in Betriebsgruppen und auf Landes- und Bundesebene entlang der Teilgewerkschaften), die Junge Generation (Unter-38-Jährige) und die SPÖ Frauen sind die wichtigsten Beispiele, die auch über Entsenderechte für Parteitage und innerparteiliche Organe verfügen. Würde man hypothetisch diejenigen Mitglieder des Pensionistenverbandes (einer SPÖ-Vorfeldorganisation mit laut Eigenangabe 385.000 Mitgliedern), die nicht ohnehin zugleich auch Parteimitglieder sind, zur Mitgliederzahl der SPÖ hinzu rechnen, wären die Zahlen eher mit denen der ÖVP vergleichbar (bei einer derartigen, der ÖVP analogen Berechnung hätte wohl auch die SPÖ vermutlich weiterhin eine halbe Million „Mitglieder“).

Die Mitgliederzahlen der übrigen Parteien sind demgegenüber vergleichsweise niedrig. Die FPÖ hatte an ihrem bisherigen politischen Höhepunkt, 1999/2000, nur ca. 55.000 Mitglieder (die nach der Parteikrise ab 2002 und der Abspaltung des BZÖ deutlich gesunken sind). Das BZÖ (dem sich v.a. die Kärntner FPÖ-Landespartei überwiegend angeschlossen hatte) liegt deutlich unter 10.000 Mitgliedern. Die Grünen liegen noch deutlich darunter (da nur in Wien und Oberösterreich versucht wurde, über den Kreis der öffentlichen Mandatare hinaus weitere Mitglieder zu werben).

Abb. 41 ca. 10% aller Österreicher/innen haben ein Parteibuch

Trotz der Probleme der Bestimmung der Zahl v.a. der ÖVP-Mitglieder verfügen zwischen 800.000 und 900.000 Österreicher/innen über ein „Parteibuch“ – denn ähnliche Zahlen lassen sich auch aus Repräsentativumfragen hochrechnen. Repräsentativumfragen und Einschätzungen von Parteifunktionären legen gleichermaßen nahe, dass diese hohen Mitgliederzahlen vor allem bei den Altersgruppen ab ca. 40 Jahren zu finden sind, während sich von den Unter 30-Jährige weniger als 5% einer Partei auch formell anschließen. Die Mitgliederzahlen bei den Über-80-Jährigen sind bei der SPÖ höher als bei den Unter-20-Jährigen, während der bei ÖVP die Mitgliedschaft in der Parteijugend zwar formell auch meist zur Mitgliedschaft in der Partei selbst führt, de facto aber mit keinerlei Verpflichtungen verbunden ist. Unter den Jugendlichen und jungen Erwachsenen haben die Großparteien somit keinen höheren Stellenwert, als dies für dieselben Altersgruppen in anderen Staaten der Fall ist. Der österreichische „Parteienstaat“ ist ein Phänomen der älteren Generationen, Parteien (durchaus auch „jugendlicher“ als die Großparteien auftretende Parteien wie FPÖ und Grüne) haben Jugendlichen offenkundig wenig attraktive Angebote zur Mitgliedschaft zu bieten. Dies lässt sich auch anhand der Wähler/innensoziologie ablesen.

 

4. Wähler/innen

In den 1950er bis 1970er Jahren war das Wahlverhalten der österreichischen Bevölkerung sehr stabil, Wahlergebnisse brachten Verschiebungen der Stimmanteile von wenigen Prozentpunkten. Aus dem Beruf, Einkommen und Faktoren wie aktiver Einbindung in katholische Milieus (messbar anhand des regelmäßigen Kirchgangs) oder Gewerkschaftsmitgliedschaft konnte mit hoher Wahrscheinlichkeit auch das Wahlverhalten vorhergesagt werden. Kurz formuliert, wählten Bäuerinnen/Bauern und Selbständige sowie aktive Katholik/innen mit hoher Wahrscheinlichkeit ÖVP, Arbeiter/innen, konfessionell schwach gebundene Personen bzw. Konfessionslose sowie Gewerkschaftsmitglieder überwiegend SPÖ. Bei Angestellten und Beamt/innen bestimmte v.a. die Höhe des Einkommens (und damit eng zusammenhängend der formale Bildungsgrad) die Präferenz für ÖVP oder SPÖ. Frauen und Jugendliche wählten entsprechend der jeweiligen Familien- bzw. Gruppennorm; leichte Abweichungen ergaben sich bis in die frühen 1970er Jahre allenfalls durch eine höhere Kirchenbindung von Frauen. Nur bei widersprüchlichen Wirkungen der genannten Faktoren waren Parteibindungen schwächer und das Wahlverhalten unsicher.

Abb. 42 Wählen

Dieses festgefügte Wahlverhalten kam ab den 1980er Jahren zunehmend in Bewegung, besonders stark ausgeprägt war dies unter jüngeren Alterskohorten. Neu positionierte (FPÖ) und neue (Grüne) Parteien erreichten ähnliche und schließlich höhere Stimmenanteile unter Erst- und Jungwählern; 1999 konnte die FPÖ bei Unter 30-Jährigen beinahe gleich hohe Wähleranteile verzeichnen wie SPÖ und ÖVP gemeinsam. Da die FPÖ stark überproportional von Männern gewählt wurde, ergaben sich darüber hinaus deutliche Unterschiede im geschlechtsspezifischen Wahlverhalten. 2002 und 2006 brachten eine scheinbare Rückkehr zu früheren Mustern des Wähler/innenverhaltens bzw. zu einem Parteiensystem mit zwei dominanten Großparteien. Bereits zwei Jahre einer stark zerstrittenen „großen Koalition“ reichten aber aus, dieses Bild v.a. zugunsten der FPÖ (und deren Abspaltung BZÖ) wieder zu verändern. Die nachfolgende Diskussion über einen „Rechtsruck“ der Jugend (Vgl. Enigl 2008) wurde vor allem von einer Nachwahlbefragung des GfK-Instituts geprägt, nach der die FPÖ bei den Unter 30-Jährigen erneut einen gleich hohen Anteil wie die beiden ehemaligen Großparteien erreicht (und die Grünen ihre ehemals starke Stellung bei den Jungwähler/innen fast eingebüßt) habe. Andere Spezialbefragungen(9) sahen FPÖ und Grüne bei den ErstwählerInnen (dies waren aufgrund der Absenkung des Wahlalters diesmal die 16-20-Jährigen) nahezu gleichauf – allerdings mit deutlichem Vorsprung der Grünen bei Mittelschüler/innen und Studierenden, der FPÖ bei Lehrlingen und Arbeiter/innen. Aber auch dies bedeutet im Umkehrschluss, dass SPÖ und ÖVP unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen nur mehr den Status mittelgroßer Parteien einnehmen.

Neben diesen Verschiebungen zeigt die Wahlsoziologie, dass die Verankerung der traditionellen Parteien in der Bevölkerung ganz allgemein stark zurückgegangen ist. Nur mehr ca. die Hälfte der Wahlberechtigten (eher aus den älteren Generationen) identifiziert sich gefühlsmäßig mit einer Partei, im vergangenen Jahrzehnt entschied sich mit ansteigender Tendenz zwischen einem Fünftel und einem Drittel der Wählerschaft erst in den 1-2 Wochen vor dem Wahltermin, welche Partei gewählt wurde – und bei den Wahlen 2002-2008 wechselte jeweils ein Viertel der Wählerschaft tatsächlich die Partei.

dgpb © Hubert Sickinger

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