Umbrüche und Grenzöffnungen 1989 im Unterricht


Abb. 68 konzeptive Überlegungen

Andrea Brait, Alfred Germ, Lisa Mayer, Andreas Pudlat, Rebecca Schumnig

1. Konzeptive Überlegungen zur Gestaltung didaktischer Szenarien

Die Bedeutung der Umbrüche, die 1989 ihren Ausgang genommen haben, ist allgemein anerkannt. Sie veränderten die Staatenwelt nachhaltig: Das Ende des bipolaren Systems mit zwei sich gegenüberstehenden politischen und wirtschaftlichen Ideologien war besiegelt und die Regime in den sogenannten „Ostblockstaaten“ konnten sich nicht mehr halten. 25 Jahre später erscheint der Begriff „Kalter Krieg“ als Schreckgespenst, insbesondere im Zuge der Debatten um den Konflikt zwischen der Ukraine und Russland seit 2014. (u.a. Fischer 2014)

Obwohl Österreich seit 1955 neutral und damit in keine der Machtblöcke offiziell eingebunden ist, haben sich die Veränderungen auch hier ausgewirkt. Der Staat verstand sich als „Makler zwischen den Blöcken“ (Fröhlich-Steffen 2003, 189) und auch die Bevölkerung assoziierte mit Österreich eine „Brücke zwischen Ost und West“ , wie Meinungsumfragen in den Jahren 1964, 1980 und 1987 ergaben (Bruckmüller 1994, 133) . Die Veränderungen der Staatenkonstellation führten zu einer Neuorientierung der österreichischen Außenpolitik. Gleichsam wurden die Bestrebungen um einen EG-Beitritt Österreichs und eine damit verbundene Orientierung nach Westen deutlich: Im Juli 1989 überreichte der damalige Außenminister Alois Mock dem Präsidenten des EG-Ministerrates Roland Dumas den berühmten „Brief nach Brüssel“, in dem Österreich einen Antrag auf Mitgliedschaft in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft stellte, womit eine Orientierung nach Westen deutlich gemacht wurde. (u.a. Gehler 2005, 638–656)

Die Umbrüche des Jahres 1989 und das Ende des Kalten Krieges sind zentrale Themen für die Geschichts- und Politikdidaktik, die auch in vielen österreichischen Schulbüchern thematisiert werden. Das 2014 neu erschienene Werk „GO! Geschichte Oberstufe 8“ (Melichar, Plattner & Rauegger-Fischer 2014b) widmet sich in einem eigenen Kapitel „Das Jahr 1989 und seine Folgen“ dem Ende des Kalten Krieges und den Auswirkungen auf die weltpolitischen Konstellationen(1) und auch im 2012 neu aufgelegten Buch „Zeitbilder 7/8“ findet sich ein Kapitel mit dem Titel „Entwicklung und Ende des ‚Kalten Krieges‘“. (Staudinger, Scheucher, Ebenhoch & Scheipl 2012) Ähnlich verhält es sich in Schulbüchern für die Unterstufe: In „netzwerk geschichte@politik 4“ (Hofer & Paireder 2012) wird das letzte Großkapitel des Buches mit „Die Zeit von 1989 bis heute“ betitelt, wodurch die Zäsur im Jahre 1989 sichtbar gemacht wird. Seiten mit den Titeln „Wie kam es zur Zweiteilung Europas?“ (Hofer et al. 2012, 97) und „Ost und West: wiedervereinigtes Europa“ (Hofer et al 2012, 101) stellen die Umbrüche des Jahres 1989 und deren Vorgeschichte überblicksartig vor.

Die Abläufe des Jahres 1989 werden selten minutiös rekonstruiert,(2) doch die langfristigen Folgen der Umbrüche werden deutlich herausgearbeitet. Den Auswirkungen auf Österreich wird in den Schulbüchern allerdings kaum Raum gegeben; das Jahr 1989 dient, wie Christoph Kühberger bereits in einer Untersuchung zeigen konnte, nicht als Periodisierungsgrenze für die Geschichte der Zweiten Republik. (Kühberger 2014, 475 f.)

Abb. 69 1989 in Österreich als Zäsur?

Im Unterschied zu Deutschland (Handro 2009, 12) kommt dem Jahr 1989 in Österreich kaum eine identifikatorische Bedeutung zu. Dennoch ist festzuhalten, dass sich der Themenkomplex der sogenannten „Ostöffnung“ sowie der Auswirkungen des Endes des Kalten Krieges auf Österreich besonders gut eignen, um zentrale didaktische Prinzipien historisch-politischer Bildung zur Anwendung zu bringen. Sie passen für den historisch-politisch bildenden Unterricht sowohl in der Sekundarstufe I und II der AHS, als auch für die entsprechenden Fächer an den BHS. Multiperspektivität, Kontroversität, Gegenwartsbezug, Handlungsorientierung, Prozessorientierung, konzeptuelles Lernen und Möglichkeiten des Transfers bilden dabei die zentralen didaktischen Prinzipien, die bei der Gestaltung von methodischen Settings zum Epochenjahr 1989 als Leitprinzipien dienen. Das Prinzip des konzeptuellen Lernens (Hellmuth 2014) lässt sich am Begriff Europa besonders gut realisieren. Durch das Arbeiten mit „mental maps“ können unterschiedliche Europavorstellungen transparent gemacht werden. Dazu gehören geografische Abgrenzungsversuche genauso wie historische Konstellationen durch den Eisernen Vorhang, kulturell-religiöse Konnotationen im Sinne eines „christlichen Abendlandes“ oder die institutionelle Vorstellung von EU-Europa. Grenzen und Grenzvorstellungen haben einen sehr konstruktiven Charakter und existieren oft ohne reale Erfahrungswerte.

Die „Grenzen in den Köpfen“ können dabei sehr vielfältig sein und speisen sich nicht selten durch patriotisch-nationalistische, ausländerfeindliche und abwertende Vorurteile. Konzeptive Überlegungen zur Etablierung von Lehr- und Lernsettings für den schulischen Unterricht können sich an Leitbildern der Geopolitik anlehnen. Im deutschsprachigen Raum sind vor allem die Ansätze von Paul Reuber und Günter Wolkersdorfer mit den Konzepten zu einer neuen kritischen Politischen Geografie bedeutsam geworden. (Reuber & Wolkensdorfer 2002) Die Radical Geography und Kritische Geografie gehen thematisch über den staatlichen Rahmen hinaus und beleuchten Hierarchien aus politökonomischer Sicht von Macht. Handlungsorientierte Politische Geografie stellt die Rollen von Akteuren in den Mittelpunkt von Analysen und wird damit zur geografischen Konfliktforschung. Die Teildisziplin der Critical Geopolitics widmet sich der Analyse von geopolitischen Leitbildern und setzt dabei vor allem auf deren Dekonstruktion. Der poststrukturalistische Zugang einer Politischen Geografie sieht Wahrnehmungen als Resultate kollektiver Deutungsschemata bzw. hegemonialer Diskussionen und widmet sich der Analyse ihrer sprachlichen Diskurse. (Reuber 2012, 97–218) Themen dieser neuen Politischen Geografie haben auch wieder Eingang in die Geografiedidaktik gefunden. Politische Geografie wird dabei nicht als „Zulieferer“ für andere wichtige Disziplinen verstanden, sondern als interdisziplinäres und integratives Bindeglied zwischen Politikwissenschaft, Geografie und anderen Disziplinen wie eben Geschichte. Darin spiegelt sich die gegenwärtige Tendenz der Fächerintegration im Bereich der Gesellschaftswissenschaften wider.(3)

Das Thema der Ostöffnung bietet sich hervorragend für fächerübergreifenden Unterricht an. Grenzen, Grenzziehungen und Grenzöffnungen zeigen ein dichotomes Verhältnis von „Wir“ und „den Anderen“. Nicht selten werden derartige Grenzziehungen von nationalistischen und populistischen Gruppen und Parteien für deren politische Zwecke instrumentalisiert. Gerade diese Dimension eignet sich besonders gut für die Entwicklung politischer Mündigkeit, Kritik- und Urteilsfähigkeit bei Schülerinnen/Schülern im Rahmen historisch-politischer Sinnbildung. (Lange 2009, 67–94)

Abb. 70 Transformation

2. Implementierung des Kompetenzmodells

Die Entwicklung historisch-politischer Kompetenzen setzt stets eine inhaltliche Fundierung voraus. Schüler/innen benötigen historisch-politische Grundkenntnisse zum Kalten Krieg und zum europäischen Integrationsprozess, um sich mit der Themenstellung „Österreich und die Ostöffnung“ auseinandersetzen zu können.

Historisch-politische Sachkompetenz kann an den Konzepten Krieg und Frieden, Transformation, Revolution, Konflikt, Ideologien und Geopolitik entwickelt werden. (Dubski, Germ, Part & Schwanninger 2014, 319)

Historische Fragekompetenz lässt sich etwa durch methodische Settings von Oral History (Straßenbefragung, Zeitzeug/inn/engespräche) fördern. Rekonstruktionen historischer Ereignisse rund um das Epochenjahr 1989 lassen sich durch das Erstellen von Tagebüchern oder Radiobeiträgen durch Schüler/innen bewerkstelligen. Die Kompetenz zur Dekonstruktion kann im Zuge der Analyse von Bildikonen sowie Sekundärtexten zum Fall des Eisernen Vorhangs oder im Zuge eines Vergleich zur medialen Darstellung der Erinnerungskultur an die Ereignisse und Bedeutung rund um das Jahr 1989 entwickelt werden. Historische Orientierungskompetenz und politische Urteilskompetenz lassen sich an Lernsettings wie „Streiten lernen“ oder „Szenariotechnik“ trainieren.

Ebenso bedeutsam ist die Entwicklung von Politischer Handlungskompetenz: Im Zusammenhang mit den Revolutionen von 1989 geht es darum, bei den Lernen den Einsichten zu fördern, welche Situationen in der Gegenwart oder Zukunft zu einer Revolution führen und wie eine Beteiligung daran aussehen könnte. Im Zuge der Analyse der Protestformen (insbesondere Transparente und politische Parolen) kann Politikbezogene Methodenkompetenz, durch das Nachstellen historischer Ereignisse und Abläufe rund um den Fall des Eisernen Vorhangs Empathiefähigkeit gefördert werden. Die didaktischen Prinzipien Kontroversität, Multiperspektivität, Handlungs- und Prozessorientierung bilden auch bei dieser Aufgabenstellung das Fundament eines guten Unterrichts, der als dynamisch, ergebnisoffen, fragmentarisch und als nicht abgeschlossen verstanden werden muss. (Hellmuth 2013, 43–45)

Abb. 71 Grenze als Konsequenz/Ergebnis/Folge historischer Entscheidungen

Abb. 72 Blockbildung-Wettrüsten 1959

3. Lernziele

  • Die Schüler/innen können die Auswirkungen der historischen Umbrüche für aktuelle politische Konstellationen beschreiben.
  • Die Schüler/innen verstehen die Zusammenhänge zwischen den politischen und wirtschaftlichen Umbrüchen, die 1989 ihren Ausgang genommen haben.
  • Die Schüler/innen erkennen Grenzen als Konsequenz/Ergebnis/Folge historischer Entschei- dungen.
  • Die Schüler/innen können Ursachen für und Folgen von Grenzziehungen benennen; sie sind insbesondere mit den Schengener Übereinkommen vertraut.
  • Den Schülerinnen/Schülern werden die Dimensionen von „Grenzen in den Köpfen“ bewusst und sie kennen Möglichkeiten zu ihrer Dekonstruktion.
  • Die Schüler/innen erkennen Möglichkeiten und Grenzen, Barrieren über Kulturkontakte zu überwinden.
  • Die Schüler/innen entwickeln einen kritischen Blick zur Gedenkkultur von historischen Prozessen und wirtschaftlichen Veränderungen.

 

4. Lehrplanbezug

Grundsatzerlass zur Politischen Bildung für alle Schultypen und Unterrichtsfächer Sekundarstufe I und II

AHS/KMS/NMS: 4. Klasse

- Der Zweite Weltkrieg und die internationale Politik nach 1945 – Kalter Krieg, Blockbildung und Entspannung, das Ende der bipolaren Welt Österreich – die Zweite Republik: politisches System, außenpolitische Orientierung – Europa und die EU

AHS: 7./8. Klasse

- das bipolare Weltsystem 1945–1990, sein Zusammenbruch und die Transformation des europäischen Systems ([...] Ost-West-Konflikt; Bündnissysteme und internationale Organisationen; [...] Zerfall der Sowjetunion; Entwicklung neuer Demokratien) die Entwicklung der unterschiedlichen Wirtschaftssysteme, Integrations- und Zerfallsprozesse ([...] Wirtschaftssysteme nach 1945)

- Österreich als Teil der europäischen und globalen Entwicklung im 20. und 21. Jahrhundert das politische und rechtliche System Österreichs und der Europäischen Union sowie politische Systeme im internationalen Vergleich

HTL: IV. Jahrgang

-bipolares Weltsystem; Transformationen und neue Strukturen der Weltpolitik

HAK: II. Jahrgang – 3. Semester / Kompetenzmodul 3

- politische Willensbildung, Grund- und Freiheitsrechte, Bürgerrechte, Wertevorstellungen und Wertekonflikte, politische Differenzierung und Meinungsbildung

HAK: II. Jahrgang – 4. Semester / Kompetenzmodul 4

- Österreich als Mitglied der europäischen Gemeinschaft

HAK: IV. Jahrgang – 8. Semester / Kompetenzmodul 8

- Bipolare Welt: Supermächte, Kalter Krieg, Wettrüsten und Abrüstung

- Politische Transformationen in Europa

HAK: V. Jahrgang – 10. Semester / Kompetenzmodul 10

- Konfliktfelder in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft und ihre historischen Wurzeln

 

dgpb© Andrea Brait, Alfred Germ, Lisa Mayer, Andreas Pudlat, Rebecca Schumnig