Die sich getraut haben


Robert Streibel(33)

Plötzlich standen zwei Männer und eine Frau auf dem Hof. Sie erkundigten sich, wer in der NS-Zeit das Essen im Wald versteckt habe. Über das vergessene Lager für ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter in Förthof bei Krems, jüdische Kinder und stille Helfer.

Straßen spielten in Förthof bei Krems eine untergeordnete Rolle, denn Förthof liegt an der Donau. Neben dem Fluss war der Weinbau von Bedeutung. Bevor die Donaubrücke gebaut wurde, gab es hier eine Überfuhr in Richtung Mautern, die Flößer donauabwärts machten hier Station. Die Männer hier waren Weinbauern und Flößer. Der Eingang zur Wachau war ein Nadelöhr, Förthof eben. Das ist lange her. Die Wachaubahn wurde gebaut und ist in der Zwischenzeit nur mehr ein Sommervergnügen, und die Bundesstraße in die Wachau, Anfang der 1960er-Jahre errichtet, lässt heute Förthof rechts liegen.

Wenn die Weinbauern in die Rieden am Berg gehen wollten, mussten sie dies auf einem schmalen Steig tun. Von einer Straße wurde lange gesprochen. Der Güterweg auf den Pfaffenberg und weiter nach Loiben wird heute ohne viel Hintergedanken benutzt. Warum auch nicht? Eine Straße ist dafür da, um darauf zu fahren und nicht, um nachzudenken oder sich zu erinnern.

Wenn man nachzufragen beginnt

Abb. 44 Güterweg von ungarischen Juden 1944/45 geschaffen

Abb. 45 jüdische Kinder mussten diese Steine schleppen

Und wie immer in unserer Heimat, wer nachdenkt, nachfragt, wer zu graben beginnt, muss nach kurzer Zeit entdecken, dass vieles, allzu vieles mit der NS-Zeit zu tun hat. Dies ist bei den Vorzeigebetrieben wie der Winzergenossenschaft Krems nicht anders als bei der Hütte Krems und beim Güterweg auf den Pfaffenberg. Arbeit bedeutete in der NS-Zeit aber immer auch Zwangsarbeit, bedeutete Verschleppte, ihrer Rechte beraubte Sklaven aus dem „Osten“.

Im Fall des Güterwegs in Förthof waren es ungarische jüdische Zwangsarbeiter, die ab 1944 hier arbeiten mussten. Jahrzehnte wurde dies verschwiegen, durch Zufall erreichte mich eine Nachricht, und ich begab mich auf die Suche. Christine Jell, die heute in Stein lebt und in Förthof geboren ist, hat vor einigen Monaten die Geschichte bei einer Familienfeier erzählt, und ein Verwandter aus Egelsee, Helmut Kirchmayer, hat mir geschrieben, weil es doch nicht vergessen werden darf. Warum die Geschichte von den Zwangsarbeitern so lange unbeachtet geblieben ist? Die Antwort von Christine Jell ist so erschütternd wie bezeichnend. „Wir sind mit der Angst großgeworden. Über Juden zu reden, das hat sich niemand getraut. Bei uns zu Hause wurde ,schwarzgehört‘. In Stein hatten wir einen Nazi, der ist bis zum Schluss herumgeschlichen und hat gelauscht, er hat die Leute angezeigt. So bin ich großgeworden. Der Mann hat auch nach dem Krieg noch in Stein gewohnt. Die Angst war immer da.“

Nicht darüber reden, das war die Devise. Für die Familie von Christine Jell hat das jedoch nicht bedeutet, dass man nichts tun kann. „Meiner Großmutter haben die jüdischen Kinder leidgetan. Dass es bei Strafe verboten war, ihnen Lebensmittel zu geben, wussten alle. In Förthof hatten wir auch einen ganz rabiaten Nazi, vor dem haben sich alle gefürchtet.“

Abb. 46 Leopoldine Beyer

Abb. 47 Gasthaus Hillinger in Förthof

Frau Leopoldine Beyer war 1944 mehr als 50 Jahre alt, sie hat damals gemeint, wenn wer etwas tun kann, dann sind es die älteren Frauen, und so beschlossen sie und zwei weitere Frauen, auf dem Weg durch den Wald, den die Kinder und Erwachsenen nehmen mussten, Essen zu verstecken, Brotstücke, Erdäpfel, Knödel. Da das Essen am nächsten Tag weg war, bestand die Hoffnung, dass es von den für sie Bestimmten gefunden worden war. Untergebracht waren die jüdischen Zwangsarbeiter im Gasthaus Hillinger in Förthof, heute befindet sich dort eine Bar, ein Herzlhaus, man könnte es auch ein Puff nennen.

Vielleicht wäre die Geschichte der jüdischen Zwangsarbeiter aus Ungarn für immer in Vergessenheit geraten, wäre da nicht ein sonderbarer Besuch Ende der 1970er-Jahre in Förthof gewesen. Plötzlich standen zwei Männer und eine Frau im Hof. Die Männer mit Hüten und Beikeles waren auch für die, die keine Ahnung von Juden hatten, als Juden zu erkennen. Einer der Männer erkundigte sich, wer aus dem Ort in der NS-Zeit das Essen im Wald versteckt habe. Ob die kleine Gesellschaft direkt zum Haus von Frau Beyer kam, ob sie bei Nachbarn gefragt hatten und weitergeschickt worden waren, ob sie aus dem Fenster beobachtet worden waren und man dann vors Haus getreten war, um zu sehen, was die fragenden Blicke der Fremden zu bedeuten hatten, wer weiß. Die drei Geschwister kamen zu Frau Beyer. Sie waren mit einer Reisegruppe nach Europa gereist und wollten unbedingt an den Ort kommen, wohin sie als Kind verschleppt worden waren. Sie wollten die Geschichte für sich abschließen und Dank sagen, symbolisch. Für jedes Kind ließen sie zehn Dollar zurück.

Wie die Namen der drei Geschwister gewesen sind, woher sie gekommen sind, niemand weiß es. Christine Jell trägt die Dollarnoten bis heute in ihrem Geldbörsel: „Eine Art Talisman.“ Sie hat vor einiger Zeit begonnen, einen Stammbaum der Familie zu erstellen, bis in die Zeit um 1730 ist sie gekommen. Die Zeit des Nationalsozialismus ist da auch wieder hochgekommen, im Heimatbuch von Förthof ist davon keine Rede. Das Buch erschien 1994. Der Titel ist bezeichnend: „Der Förthof. Ein Hauerdorf kämpft ums Überleben“. Die Fremden gehörten da nicht dazu.

Aus Förthof lebt so gut wie niemand mehr, der sich erinnern könnte. Durch Zufall kam Christine Jell ins Gespräch mit einer älteren Frau aus Stein, deren Eltern ein kleines Gemischtwarengeschäft hatten. Diese erinnerte sich, ein weiteres Mosaiksteinchen: „Wir sind nach Förthof gefahren und haben ihnen Matratzen und Decken gebracht, denn die Kinder mussten ja auf dem Fußboden schlafen.“ Die näheren Umstände bleiben im Dunkeln.

Aus Förthof lebt so gut wie niemand mehr, der sich erinnern könnte. Durch Zufall kam Christine Jell ins Gespräch mit einer älteren Frau aus Stein, deren Eltern ein kleines Gemischtwarengeschäft hatten. Diese erinnerte sich, ein weiteres Mosaiksteinchen: „Wir sind nach Förthof gefahren und haben ihnen Matratzen und Decken gebracht, denn die Kinder mussten ja auf dem Fußboden schlafen.“ Die näheren Umstände bleiben im Dunkeln.